Miedzychód liegt an der Warthe. 160 Kilometer von Berlin entfernt. Das polnische Städtchen entwickelt sich zum Wallfahrtsort. Das liegt nicht an der schwefelhaltigen Quelle, die dort sprudelt. Nach Miedzychód pilgern Kaufleute. Und treiben gewissermaßen Ahnenforschung. "Wer sich mit der Geschichte der deutschen Warenhäuser beschäftigt, kommt um Birnbaum nicht herum", sagt Nils Busch-Petersen, Hauptgeschäftsführer des Berliner Einzelhandelsverbandes. Denn Miedzychód, früher Birnbaum, ist so etwas wie die Wiege deutscher Warenhauskultur. Der Ort fiel durch der Versailler Vertrag an Polen. Die Familien Tietz, Joske, Ury und Knopf stammen aus Birnbaum, die Familien Schocken und Wronka aus der Umgebung. Die Kaufmannssippen machten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland mit einer fulminanten Idee Furore - dem Warenhaus. "Wahrscheinlich hat Hermann Tietz die Idee 1870 aus den Staaten mitgebracht", sagt Busch-Petersen. Sein Neffe Oscar eröffnete am 1. März 1882 mit dem Kapital seines Onkels sein erstes Geschäft in Gera. Das damals Besondere: Die Preise waren festgelegt, also nicht verhandelbar, es durfte nicht angeschrieben werden, und das Sortiment war branchenübergreifend. Bevor riesige Einkaufstempel in den großen Städten gebaut wurden, überzeugte das neue Konzept zunächst in kleineren Städten wie Bamberg, Erfurt, Rostock, Stralsund, Wismar und eben Gera. In Berlin entstand 1896 mit dem Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz das damals größte derartige Unternehmen Europas. In der Nachbarschaft eröffnete Hermann Tietz an der Leipziger Straße, 1905 folgte das Tietz-Haus am Alexanderplatz. Während sich Hermann und Oscar Tietz auf den Süden und Osten des Landes konzentrierten, eroberte Leonhardt Tietz den westdeutschen Raum und Belgien. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs gebot Leonhard Tietz über 18 Häuser in Deutschland und sechs in Belgien. Inzwischen stieg Hermann Tietz zu einem der bedeutendsten Warenhaus-Unternehmer Berlins auf, den Konzern übernahm später sein Neffe Oscar.
"Die Warenhäuser waren deshalb so erfolgreich, weil sie schnelle Lieferungen garantieren konnten. Man hatte eigene Lagerhäuser an den Bahnhöfen", so Busch-Petersen. Im Tietz-Haus an der Leipziger Straße gab es sogar eine eigene Kellerei, man bot Dienstleistungen an, und bis in die 30er-Jahre gab es in den prunkvollen Häusern mit lichten Höfen sogar Restaurants und Kaffeehausmusik. Auch die noch heute bekannten "weißen Wochen" sind eine Tietz-Erfindung.
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1907 ließ Adolf Jandorf das damals größte Kaufhaus Deutschlands, das KaDeWe am Wittenbergplatz bauen. Der Tauentzien war damals noch keine große Einkaufsstraße. "Darauf angesprochen, dass das kein guter Standort sei, soll Jandorf die dicke Zigarre aus dem Mund genommen und gesagt haben: "Wat een juter Standort is, bestimme ick'", berichtet Busch-Petersen. Dass Jandorf Recht behielt, zeigte sich schon 1926: Der Tietz-Konzern kaufte Jandorf das Haus ab. "Die Nazis waren erbitterte Gegner der Warenhäuser. Sie fürchteten um den deutschen Mittelstand", so Busch-Petersen. Mit einer Steuer und neuer Brandschutzverordnung machten sie den meist jüdischen Unternehmern das Leben schwer. Nach 1937 wurden sie systematisch enteignet. Die Leonhard Tietz AG wurde von einer Bank übernommen und heißt heute Kaufhof AG, der Name "Hertie" als Kürzel von Hermann Tietz hat überlebt. 1994 erwarb Karstadt das gesamte Stammkapital der Hertie Waren- und Kaufhaus GmbH.
Die Spuren von Hermann Tietz und seines Neffen Oscar kann man heute in Miedzychód wieder finden. Dort erinnern ein Gedenkstein und eine nach ihm benannte Straße an Oscar Tietz, der seiner Heimatstadt Birnbaum stets verbunden blieb.
Quelle: Artikel in der Berliner Morgenpost vom 30.04.2004, Andrea Puppe